Kerstin
11. Juli 2017
Kai
11. Juli 2017

Wer war ich – und wer ich bin

Vor mehr als 50 Jahren wurde ich in Speyer als Junge geboren und in der typischen Jungenrolle erzogen. Lediglich bei meiner Oma durfte ich, wenn ich das Bedürfnis hatte, in die Mädchenrolle schlüpfen. Obwohl ich mich prügelte, tobte und mich benahm wie ein Junge, habe ich mich, solange ich darüber nachdenken konnte, mehr als Mädchen gefühlt und fand alles bis zur Pubertät ganz normal; im Kindergarten, als Jungen und Mädchengruppen aufgeteilt wurden, fühlte ich mich in der Jungengruppe nicht gut – und Oma, die wohl ein Gespür dafür hatte, holte mich aus dem Kindergarten.

In der Pubertät saß ich zwischen zwei Stühlen und habe mich stark abgelehnt und meine Wut gegen mich selbst gerichtet, weil ich nicht begreifen konnte warum, und was so anders an mir ist. Ich ging so weit, dass ich an Selbstmord dachte. Ich flüchtete mich in Verdrängung der Rolle, die ich von meinem Innern her empfand und spielte und funktionierte in der Rolle, die mir von außen zugedachte wurde. ABER der Zwiespalt blieb. Ich wurde zum Außenseiter und hatte wenig Kontakte.

Nach Abschluss der Schule begann ich eine Metzgerlehre, die mir von meinem Stiefvater mehr oder weniger aufgezwungen wurde und die ich nach drei Monaten abbrach. Meine Oma, die mir gegenüber sehr empathisch war, vermittelte mir stattdessen eine Malerausbildung.

Ich hatte Kontakte zu Jungs, was aber irgendwie nicht passte, da ich ja nicht schwul war und eine rein platonische Beziehung zu einer Freundin.

Ein ganz fürchterliches Erlebnis war der Kauf eines Anzugs für den Abschlussball des Tanzunterrichts und dass ich diesen Anzug dann auch tragen musste. Ich hatte auch niemanden dem ich mich anvertrauen konnte und habe meine Rolle deswegen immer wieder perfekt gespielt, auch mit Partnerin, was ich heute bereue und es mir anders gewünscht hätte.

Der Gedanke, wie komme ich aus dieser Rolle, quälte mich unendlich. Die Hochzeit des Bruders einer Bekannten, bei der ich mich neutral, leger kleidete, gab mir den letzten Anstoß. Das war 1994. Ich informierte mich immer wieder im Internet. Das “Coming out“ hat sich bis 2002/2003 hingezogen und durch einen Krimi und Recherchen war ich soweit, dass ich meine Gefühle, eine Frau zu sein, nicht mehr unter den Teppich kehrte. Es war eine Erlösung!!!

Ich suchte den Kontakt zu Ärzten und Therapeuten, denn staatlichen Stellen, die uns Transgender beraten würden, konnte ich 2006 keine finden, wären aber absolut wünschenswert gewesen. Da ich keine Vertrauten hatte, musste ich durch die Übergangsphase alleine durch, was oft nicht leicht war, aber ich hatte die Perspektive, nun zu mir selbst zu werden und hatte nie Bedenken, dass andere Menschen denken könnten, ich würde nach allen Behandlungen sehr männlich wirken.

In der Transferphase lernte ich meinen Ehemann in einer Selbsthilfegruppe in Karlsruhe kennen und er konnte sich gar nicht vorstellen, dass alles so schnell gehen würde, aber dem war glücklicherweise so. Leider werden Selbsthilfegruppen immer weniger und damit auch persönliche Gespräche mit Betroffenen. Was ich Betroffenen gerne sagen möchte: Bevor Ihr Euch entscheidet, begebt Euch in eine fremde Umgebung und bewegt Euch dort einige Zeit als Frau. Prüft, ob Eure körperliche Struktur mit euren Geschlechtswünschen übereinstimmt. Verlasst Euch auf keinen Fall auf Internet-Foren, denn da gibt es extrem viele „Schweine“, die nur auf Negatives oder sexuelle Abenteuer aus sind. Heute würde ich von mir selbst behaupten: Mich als eine Expertin in eigener Sache zu sehen, da ich die komplette Situation am eigenen Leib erfahren habe. Ich kann nur jeden ermutigen, den Weg zu gehen, den ich ging.

 

Simone, Jahrgang 1962