1989 begann ich, in Archiven systematisch nach Frauengeschichte zu forschen. Das war damals ein gewagtes Unterfangen, denn im deutschen Südwesten gab es wenig zur Frauengeschichte, wenn wir von „Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin“ absehen. – Ich hoffe, Sie bemerken mein Augenzwinkern, denn eine Seite Papier hat wenig Platz für so viele Frauen und ihr Gestalten von Geschichte in der Metropolregion – allein über 800 Jahre Heidelberg, dann Mannheim und Ludwigshafen.
Nun ist die Lage etwas anders, aber damals? In Berlin, Frankfurt a. M. und Hamburg waren spektakuläre Frauengeschichtsausstellungen teils mit guten Finanzierungen (Berlin mit hart erkämpften traumhaften 500.000,- DM) gelaufen. In Bremen, Köln oder Bonn wurde Frauengeschichte zum akademischen Lehrstoff – doch in der Metropolregion? In Archiven war die Standardauskunft über die Hälfte der Menschheit: „Zu Frauen haben wir nichts.“ Bis heute ist dies die Reaktion auf unkonkrete Anfragen, wenn ein als nicht vertretbar empfundener Aufwand vermutet wird. Bis heute ist das die Antwort auf: „Haben Sie Quellen zur Lesbengeschichte?“
Forschungen zeigen hingegen: Nicht die Quellen, das Archivgut verhindert ein Ergebnis. Dies meint, es liegt an der Struktur von Historiografie, d. h. wer Geschichte mittels welcher Quellen schreibt und welche Epistemologie gilt, das meint, welche Fragen an Quellen herangetragen werden und wie eine Wissenschaftsförderung ermöglicht, dass Quellenanalysen (von Historikern in bezahlter Stelle, von Historiker_innen in prekärer Situation) zu Papier oder in den digitalen Wissensspeicher gebracht, oder welche Materialien als archivwürdig anerkannt, als Quelle akzeptiert und gesichert werden.
Dass die Geschichte von Lesben findbar ist, zeigen Biografien, Stadtgeschichten, Bewegungsanalysen und dergleichen. Doch wer ist eine „Lesbe“ und dann etwa eine frauenliebende Frau aus dem 18. Jahrhundert? Wie wäre die Definition „eine Lesbe ist eine Frau, die das, was sie am liebsten macht, mit Frauen macht“? Lesbengeschichte als selbstverständlicher Teil von Geschichte ist mit Gewinn für alle machbar. Das „offene Desiderat“ kann bewältigt werden, vorausgesetzt, es gibt ein „Jenseits von „Androzentrismus / Andronormativität“. Die Begriffe bedeuten, dass der Mann als Maß und Norm aller Dinge gilt. Sie entstammen aus dem Griechischen („anēr“, „andrós" = Mann), und bedeuteten soviel wie Mann-Zentriertheit, Mann-Regel.
Wenn Aussagen über „Menschen im Allgemeinen“ auf der Grundlage von Lebens- und Erfahrungszusammenhängen erwachsener Männer abgeleitet und für allgemeingültig erklärt werden, ist die Wirklichkeit unzureichend oder verzerrt beschrieben. Die Wirklichkeit von Frauen, Kindern, Jugendlichen bleibt unbeachtet, die Verallgemeinerung schließt viele Menschen aus und ist letztendlich ungenügend. Seit den 1970er Jahren gewinnen die Denkfiguren kategoriale Bedeutung, besonders feministisch perspektivierte Wissenschaft erfasst damit charakteristische Strukturen, die in patriarchal organisierten Gesellschaften gelten. Beispielsweise vernachlässigt das ausschließliche Verständnis von Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit wesentlichen Mehrwert, etwa unbezahlte Care-Arbeit, die Fürsorge wie etwa Pflege, die heute mehrheitlich von Menschen weiblicher Geschlechtsidentität geleistet werden.
Die Begriffe ermöglichen, gesellschaftliche Ordnungs- und Machtstrukturen zu erkennen und helfen, eine klare Beschreibung von Ausgrenzungsprozessen, beispielsweise von Frauen durch die geschlechtsspezifische und - hierarchische Arbeitsmarktteilung, oder von Lesben und deren Geschichte in Forschung und Lehre. Frauengeschichte jenseits der tradierten Vorgaben ermöglicht, den sog. Vitruvianischen Menschen hinter sich zu lassen, also jene Quadratur des Kreises zu realisieren, was Leonardo da Vinci 1490 als Skizze eines Mannes formte, die zum Maß für Menschen aller Geschlechtsidentitäten, Lebensformen und sexueller Orientierungen wurde.
Die erste Lesbenzeitschrift in West-Deutschland, die UKZ (Unsere kleine Zeitung), griff das gängige Bild auf und präsentierte den männlich gesetzten Standard (siehe Abbildung UKZ). Die „Mate“ zeigt, dass damals eine weitere, dritte Dimension als Dreieck reflektiert wurde und die konventionelle Bias, das polare Entweder-Oder aufbricht und zu einem in sich dynamischen Modell wirkmächtiger Beziehungen wird. Zu welchem Geschlecht zählt beispielsweise Liddy Bacroff, die mit wem was am liebsten machte? Nach der Tätersprache, der § 175er-Akte zur schwulen Männergeschichte – nach der Eigenbenennung zur Frauengeschichte.
Queer-feministische LesbenFrauengeschichte lässt neue Erkenntnisse erwarten hinsichtlich der Selbstreflexivität der historischen Zunft in Bezug auf gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nach Wilhelm Heitmeyer und den zwölf Kriterien, und deren komplexe Korrelationen zueinander. Schließlich schrieb Elisabeth Schmitt bereits: „Eine Liebeserklärung ist wie die Eröffnung beim Schach: die Konsequenzen sind unabsehbar!“  Wir werden es in den nächsten Jahren sehen, was Forschung zur Lesbengeschichte noch mehr herausfindet.
Ilona Scheidle, M.A. ist freie Historikerin, forscht nach Zeugnissen von Menschen, die – der Liebe wegen – unsichtbar waren, die gesellschaftlich ausgegrenzt wurden und vielfaches Leid erlebt haben.
Bildnachweis: Ilona Scheidle, Lesbisch-Schwule Geschichtswerkstatt Rhein-Neckar